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Das bin ICH

Die haben Köpfe wie Radios - die Russen II

 

 

Ich kann mich noch an die Adresse erinnern – Mühlenstraße 7.

Ich war sechs Jahre alt. Unser Haus was gelb, sagte mein Bruder, ich hatte es rosa in Erinnerung.

Ich saß  in unserem Hof auf dem Boden an einen Zaun gelehnt und kritzelte mit einem Stöckchen irgendwas in den Sand.

Ich wartete eigentlich auf Horst, unseren Nachbarjungen. Der war ein Stiefsohn und seine Mutter würde ihn schlagen, wurde so gemunkelt.

Meine Mutter nähte ihm den einen und anderen Knopf an die Jacke und machte ihm hin und wieder auch ein Butterbrot.

Horst kam an diesem Morgen nicht.

Ich starrte an die gegenüberliegende schwarze Brandmauer – deren Schwärze durch das Sonnenlicht fleckig und dunkelbraun aussah.

Ein Starenkasten hing dort, die Stare sind dieses Jahr nicht gekommen und ein Starenkasten ohne Stare ist trostlos. Die Sicherungskästen mit den weißen Porzellansicherungen mit den Elektroleitungen konnten den trostlosen Anblick auch nicht ändern.

 

Ich schaute noch oben – aus der Enge des Hofes hinaus. Strahlend blauer Himmel. Der Duft des blühenden Flieders, links im Hof, lud ein, ihn ein-gehend zu betrachten, als wollten die Augen ihn auch schnuppern.

Rechts war die verheißungsvolle Küchentür, hinter der meine Mutter wahrscheinlich im Kochtopf rührte –

wahrscheinlich Eintopf – wie so oft im Jahre 1944.

Ich sollte mal nach einem Butterbrot schauen.

Wir sagten immer Butter, obwohl es nur Margarine war.

Fliederbaum, Butterbrot – also Margarinebrot – liess meine Stimmung besser werden.

Plötzlich hörte ich ein Brummen näher kommen.

Ich schaute nach oben und sah lauter kleine Flugzeuge – wie in den Himmel gestickt. Eine hellblaue Tischdecke mit kleinen schwarzen Flugzeugen.

Sie hatten ihre Bomben schon wo anders abgeworfen.

Ich war im August 1938 in Wollin geboren. Da war noch Frieden.

Was ist Frieden, wollte ich wissen.

Da gab es Bananen und Schokolade und überhaupt...

wie schmecken Bananen? Wollte ich wissen.                                                                                                                                                                                                                                                    

Er sagte, so ungefähr wie Birnen. Wie Birnen schmecken, weiß ich ja, weil wir im Garten einen Birnbaum haben.

Einen ganz großen Baum mit ganz kleinen Birnen.

Ich sollte später erfahren, daß uns außer Bananen und Schokolade noch vieles trennte vom Frieden.

 

Wenn Bombenalarm war, mußten wir in den Keller.

Gasmasken hatten wir auch, die setzten wir aber nicht jedes mal auf.

Mein Bruder und ich haben es mal gemacht. Wir sahen aus wie gespenstige Riesen-Insekten. Die rochen von innen auch nicht gut. Wir hatten großes Glück, dass damals bei uns noch keine Bomben über der Stadt abgeworfen

wurden.

Der Volksempfänger – ein kleiner viereckiger Kasten – wurde zum Mittelpunkt der Familie, wenn die Nachrichten kamen. Besonders mein Vater und meine Brüder standen um ihn herum.

Ich stellte mir das russische Heer vor. Horden von grauen Männern, die statt Köpfen Volksempfänger zwischen den Schultern trugen.

 

 

 

Die haben Köpfe,

wie Radios,

verkündete ich allen.

 

 

Inzwischen zogen Die Ostpreußen durch unsere Straßen, erschöpft und verzweifelt. Ein Treck der Armut und Trostlosigkeit.

Der ersehnte Tag meiner Einschulung war heran gerückt.

Von Taudchen, meiner Cousine aus Berlin, bekam ich ein Goldkettchen mit einem Mosaik-Herzen. Traudchen wohnte bei uns, weil sie eine Schneiderlehre machte. Mein Vater hatte mir eine Schultüte gebastelt mit bunten Vierecken drauf. Ich hatte einen Tornister mit Schiefertafel, Schwämmchen und mit buntem Papier beklebten Griffeln. Meine Mutter hatte mir aus einem Sofakissen-Bezug eine Weste genäht und meine Cousine machte mir einen Hahnenkamm und Affenschaukeln aus meinen dünnen Zöpfchen. Meine dünnen Beinchen unter dem Rocksaum steckten in runter gekrempelten braunen Strümpfen in braunen Schuhen. Wenn ich mein Einschulungsfoto betrachtete, so schaute ich doch weniger  freudestrahlend, sondern eher skeptisch.

 

Nach der Schule besuchte ich manchmal meinen Averter auf der Polizeiwache. Er wollte gerade Fliegeralarm auslösenund liess mich den Alarmknopf drücken. Das war ein Gefühl, als die Sirenenzu heulen begannen – immer wieder und immer wieder.                                                                                                    

Am nächsten Tag in der Schule hab ich damit natürlich

angegeben, was einige Mädchen schmallippig und scheel gucken ließ. Wenn die Lehrerin die Klasse betrat, mußten wir alle aufstehen und den rechten Arm ausstrecken und Heil Hitler sagen und wenn wir beim quatschen erwischt

wurden, mussten wir die  Finger auf den Tisch legen, damit die Lehrerin mit ihrem Rohrstock draufhauen konnte. Das tat weh!

Im Kindergarten wurde nur mir herum genörgelt und ich wollte kein zweites Mal dahin. Als mir gut zugeredet wurde, habe ich so überzeugend gebrüllt, dass meine Eltern mich zu Hause ließen.

 

Die Zeit ging weiter, Weihnachten rückte näher.

Meine Mutter wälzte riesige Teigmassen, rollte sie aus und füllte ein Blech nach dem andern mit Pfefferkuchen und Plätzchen.

Die Äpfel waren unter dem Bett gelagert und wir schauten hin und wieder nach ihnen, ob sie nicht am faulen waren. Einer war immer am faulen und schmeckte besonders gut. Der langsame Schwund musste je erklärt werden.

Mein Vater nahm mich einmal mit in die Weihnachtswerkstatt der Polizei. Es roch so schön nach Farbe und Klebstoff. Da waren Puppenwagen aus Holz und herrliche Spielsachen zu sehen.

 

Auf der Weihnachtsfeier  stand ein Riesen-Weichnachtsbaum mit ganz vielen roten Äpfeln behängt und es roch immer noch so gut nach Holz und Farbe.

Unter dem Baum strahlten uns die schönen Spielsachen an. Ich wollte natürlich den Puppenwagen, bekam aber einen Gliederdackel zum hinterher ziehen.

Ich fand mich zu alt für einen Holzdackel zum ziehen und war nicht so ganz glücklich.

Weihnachten 1944. Es klopfte an der Tür und der Weihnachtsmann kam herein.

Er war nicht sehr groß, hatte unseren Kaffeewärmer auf dem Kopf und fragte, ob ich ein Gedicht aufsagen könne. Ich war verlegen und wollte nicht. Er gab sich auch ohne Gedicht zufrieden und verließ unsere Stube. Kurze

Zeit später kam mein Bruder herein.                                                            

Eine Unruhe war bei uns zu spüren, die Ahnungen aufkommen ließ.  

So wurden nach und nach unsere Hühner immer weniger und die Belgischen Riesen, meines Vaters ganzer Karnickelzüchter-Stolz.

Dass die als Braten auf dem Tisch gelandet waren, hatte ich nicht so gemerkt.

Und die Seuthe, das Lieblingshuhn meiner Mutter, rannte auch nicht mehr draußen herum.

 

Während all dieser Veränderungen fand Hänschens Konfirmation statt.

Da kam der eine oder andere Braten schon recht.

Er bekam endlich seine Armbanduhr, auf die er schon sehnsüchtig wartete. Im Garten wurden indessen große Löcher gebuddelt.

Das Tafelsilber und das » gute « Geschirr, das zu Hänschens Konfirmation zum letzten mal den Tisch geschmückte hatte, wurde vergraben, um es vor den Russen zu verstecken.

Da war noch viel Hoffnung, eines Tages wieder zurück zu kommen.

Die Einmachgläser betraf das nicht – im Gegenteil.

Die wurden geöffnet und freigegeben. Früher gab es höchstens Sonntag mal Kompott zum Nachtisch.

Ich löffelte so lange, bis mir schlecht war.

Mir war nun auch klar, dass die Flucht bald bevor stand.

Ich stellte mir das irgendwie abenteuerlich vor.

Wir hatten den großen Vorteil, uns dem Viehhändler Schwarz anzuschließen. Er wohnte in unserer Straße und Hänschen ging ihm oft zur Hand.

Marlitt, seine Tochter und mein Bruder waren befreundet, sie waren ja noch Kinder von 14. Jahren.

Fast nobel würden wir » reisen « im Planwagen, begleitet von einem Einspänner und einem PKW.

Mein Vater mußte noch in Gollnow zurück bleiben. Er war Polizist und es war Sache der Polizei die Abläufe der Flucht zu überwachen und zu ordnen.

Mein Bruder Willi wurde noch zum Volkssturm eingezogen mit 15 Jahren. Er war bei der Hitlerjugend und war stolz auf sich - etwas für sein Vaterland tun zu können.

Der Stolz wird ihm dann bald vergangen sein.

 

Meine Mutter war ungerecht ihm gegenüber, er war ja » nur « ihr Stiefsohn. Mein Vater hat bei ihren Kindern aus

anderer Ehe keinen Unterschied gemacht.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            

Warum ich das jetzt alles erzähle? Wir hatten den Vorteil, uns Schwarzens von Schwazens ganz nobel ganz nobel auf die Flucht mitgenommen zu werden.

Wir reisten mit Planwagen, Pferdekutscheund einem PKW im Geleit.

Mein Vater mußte noch in Gollnow zurück bleiben, um als Polizist das Geschehen der Flucht zu überwachen und zu ordnen.

Mein Bruder Willi mußte mit 16 zum Volkssturm. Da er bei der Hitlerjugend 5a war, hatte er auch die  Motivation, sein Vaterland retten zu wollen.

Meine Mutter war ihm nicht sehr gewogen, weil er in den Pflegeljahren war, wie man damals sagte. Er war auch nicht ihr leiblicher Sohn.

Mein Vater machte keinen Unterschied zwischen seinen leiblichen Kindern und den Stiefkinder.

Meine älteste Schwester Lieselotte war in Russland an der Ostfront bei der Organisation Todt.

Unsere Mutter, mein Bruder Hänschen, meine Schwester Ingrid, unsere Cousine Traudchen und ich waren die, die mit der Familie Schwarz die Reise ins Ungewisse antraten. Meistens im Planwagen.

 

Es war Februar und sehr kalt. Traudchen musste sich nun doch auf den Weg nach Berlin zu ihrer Familie machen, wo der Bombenhagel noch tobte. Sie machte ihre Lehre in Pommern, weil dort noch keine Bomben fielen.

Nun war der Tag gekommen. Wir hatten unsere Habseligkeiten im Planwagen verstaut. Abschied vom Vater und von der Heimat im Morgengrauen.

Ich weiß nicht mehr, ob geweint wurde. Ich erinnere mich nur an eine große Hektik, ehe es los ging. Ich war ungeduldig und neugierig. Ich mummelte mich auf dem Planwagen gemütlich in warme Decken und hörte endlich die Hufe der schweren Kaltblüter und das das Hufgeklapper des Pferdes vor der Kutsche. Der Motor des PKW heulte auch auf.

Wir waren auf dem Weg...

Ich liess es mir gut gehen, so gut ich konnte. Am dritten Tag schon wurde es langweilig und ich wollte nun wieder nach Hause.

Ich durfte den Planwagen verlassen, um mich umzuschauen und Luft zu schnappen und von nach Hause könne erstmal keine Rede sein.                                                                                                                 

Der Treck ging langsam im Schrittempo voran.

Ich sah ein etwa gleichaltriges Mädchen, das sich an einem Wagen fest hielt und mitlief.

Ihre Nase war völlig verrotzt. Ich fragte sie, wo ihre Mutter sei. Sie wusste es nicht. Ich wollte sie natürlich

sofort in unsere Familie aufnehmen, was meine Mutter

energisch ablehnte.

                                                                                                                  Ja – so war das. Auf der Flucht war jeder sich selbst der Nächste.

Nachts hörten wir gelle Hilfeschreie und Pferdegewieher. Aller waren entsetzt und am nächsten Tag erfuhren wir, dass ein Planwagen mit den Perden im Gespann eine vereiste Böschung hinunter rutschte. Was aus den Menschen und Pferden geworden ist, weiß man nicht. Ich weiß nur, dass Pferde mit gebrochenen Beinen erschossen werden müssen.

Als ich wieder einmal draußen war und neben unserem Planwagen lief, sah ich links im Chausseegraben zwei sehr kleine Geschwisterkinder, die Rotz und Wasser heulten und verzweifelt schrien, nicht älter als drei und fünf Jahre alt.

Was mit der Mutter ist wußte niemand. Ich hatte meiner Mutter wieder zugesetzt, was nichts genützt hatte.

Die Russen sollen sich um die Waisenkinder gekümmert haben.

So vergingen Tage und Wochen. Auf der Chaussee lagen viele tote Pferde in ihrem Blut. Selbst daran hatten wir uns gewöhnt.

Krieg nimmt keine Rücksicht auf nichts und niemanden!

Eine frühe und bittere

Erfahrung.

 

 

Es war ein kalter und sonniger Tag, als Tiefflieger zu

hören waren.

Unser Kutschpferd stieg wiehernd hoch, der Pole, ein Arbeiter von Herrn Schwarz, hatte die Zügel gehalten, hat es aber mit der Angst zu tun bekommen und ist von der Kutsche gesprungen, um sich im nahe liegenden Wäldchen

in Sicherheit zu bringen.

 

Mein Bruder rannte hinter der Kutsche her, nahm die

Zügel an sich und brachte das Pferd zur Ruhe.

Wir rannten auch alle ins Wäldchen und versteckten uns.

Als das Brummen leiser wurde, liefen wir erleichtert zum

Treck zurück.                                                                                                                                                                                                                                    

So ging es weiter. Ziel war zunächst die Stadt Greifswald. Die Mutter von Herrn Schwarz war erkrankt und ist dann auch gestorben.

Dort trennten sich unsere Wege.

Traudchen verabschiedete sich und wollte mit dem Zug nach Berlin-Köpenick zu ihrer Familie, obwohl in Berlin die Hölle los war.

Sie war aber wohlbehalten dort angekommen, wie wir später erfahren hatten.

Wir waren evakuiert worden zum Großbauern Schmidt im kleinen Dörfchen Nix, nahe bei Rostock. Dort waren schon andere Familien unter gebracht. Wir waren zufrieden und konnten erst einmal aufatmen. Ich hatte mich schnell den anderen Kindern angeschlossen.                                                                                                                    

Beim Bauern Schmidt fühlten wir uns nach dem Treck in der Kälte – wie im Paradies. An Frau Schmidt kann ich mich nicht mehr erinnern.

Ich weiß nur, dass die schweren Zeiten den Schmidts die Menschlichkeit und Freundlichkeit nicht abgekauft hatten.

Einmal kam uns ein Knecht mit einer Schubkarre voller dampfender Pellkartoffeln entgegen auf dem Weg zum Schweinestall. Wir fragten, ob wir eine haben dürften – wir durften. Lachend bot er uns welche an, die wir

schmatzend verzehrten.

Das Anwesen von Bauer Schmidt war außerhalb gelegen. Wenn wir ins Dorf wollten, mussten wir ein paar Kilometer laufen. Das taten wir an einem schönen Tag. Auf dem Heimweg inspizierte mein Bruder einen großen Bombentrichter, ob er Granatsplitter finden würde, weil es Geld dafür gab. Das war in Gollnow so. Ob es hier auch so war, konnte ich mir nicht vorstellen, die Leute hatten 

andere Ding im Kopf.

Wir waren im Frühjahr 1945 kurz vor dem Kriegsende.

Als wir so schön in der Sonne schlenderten, hörten wir plötzlich ein Geschnaufe und Getrampel hinter uns.

Beim Blick zurück kam Entsetzen auf.

Ein wild gewordeneer Bulle stampfte mit gesenkten Kopf hinter uns her.

Wir rannten, was die Beine hergaben, über eine Koppel. Meine Mutter hatte das wütende Tier hinter einem Zaun durch hin- und herlaufen irritiert und dadurch aufgehalten, um Zeit für uns zu gewinnen.

Sie rannte dann auch los, das Gehöft war nicht mehr

weit und sie war noch im Schutze der Abzäunung.                                                                                                                                                                                                                                       

Schließlich hatten wir alle das sichere Gehöft erreicht. Das wütende Tier war nun auch angekommen und blieb stampfend außerhalb des Hofes stehen, Ostern während die Jungens es mit Steinwürfen zur Weißglut brachten.

Bauer Schmidt hatte ein Gewehr im Anschlag für alle

Fälle.

Die Jungs wurden gestoppt in ihrem wilden Treiben und das Tier beruhigte sich und stampfte schnaufend davon. Was wohl aus ihm geworden ist? Als Steak kam er jedenfalls nicht auf unsere Teller.

Seit diesem Erlebnis habe ich heute noch Angst vor jeder Kuh.

 

Ostern stand vor der Tür.

Es duftete köstlich nach gebrannten Mandeln. Zuckerbonbons wurden von den Müttern in der Pfanne gebrutzelt, damit die Kinder nach den Strapazen eine Freude hatten.

Während des Abenessens klingelte es an der Tür. Bauer Schmidt ging nach unten und wir hörten Männerstimmen. Er kam wieder rauf und tuschelte mit unserer Mutter, die dann hastig nach unten lief. Sie kam wieder rauf - mit unserem Vater! War das eine Freude, ihn zu sehen und ihn anfassen zu können und seine Stimme zu hören.

So ein Gefühl wie: Jetzt ist alles gut.

Frau Schmidt hat für unseren Vater noch Spiegeleier emacht, Bratkartoffeln waren noch da. Unsere Eltern bekamen ein Zimmer für sich.

Am nächsten Morgen gingen wir ins Wäldchen, die Osterüberraschung zu suchen und mein Vater versprach mir eine Puppe – so groß, wie ich selber, wenn bald Frieden ist. Er erzählte auch, dass er sich hätte durchschlagen müssen.

Leider war die Zeit mit ihm viel zu kurz. Er musste noch einmal nach Gollnow zurück und versprach uns, uns so schnell – wie möglich in Nix abzuholen.

Er sagte auch zu unserer Mutter, unbedingt in Nix auf ihn

zu warten – um jeden Preis!                                                                                                                                                                                                                        

Inzwischen waren die Russen auch für uns spürbar da. Und sie hatten keine Radios statt Köpfe, sondern sahen so aus – wie normale Männer.

Sie konnten auch sehr nett sein, wenn sie nicht betrunken waren.

An dem Abend, als sie auf den Hof geritten kamen, der Offizier auf einem Schimmel, waren sie betrunken.

Sie riefen alle Leute, die im Haus waren, zusammen. Ängstlich gruppierten wir uns vor dem Haus. Die russischen Soldaten uns gegenüber.

» Uri, Uri « riefen sie, » oder wir euch erstechen und Haus anzünden. «

Meine Mutter raunte Hänschen zu, dass er keine Uhr hätte, während ich brüllte » Hänschen, hol deine Uhr, ich will nicht erstochen werden. « Hänschen holte seine Uhr, die noch nicht so lange in seinem Besitz war und übergab sie.

Ich weiß nicht, wie viele Uhren an diesem Abend ihre Besitzer gewechselt haben.

Die Soldaten wurden noch verpflegt und gaben dann Ruhe.

Am nächsten Morgen – einem herrlichen Frühlingstag – sprach mein Bruder mit dem Offizier – er konnte ein wenig russisch – und schmückte das Zaumzeug des Pferdes mit Vergissmeinnicht und hoffte, seine Uhr, die am Arm des Offiziers als sechste prangte, zurück zu bekommen.

Vergebens!

Schimmel schön, Uhr jetzt russisch!

 

Stattdessen schenkten sie uns kleineren Kindern Bonbons und waren richtig nett und freundlich.

Es wurde im Zusammenhang mit den russischen Soldaten von Vergewaltigungen gemunkelt. Deshalb wurde allen Frauen und Mädchen geraten, ins Flüchtlingsheim im Dorf zu gehen, das sei sicherer.

Ängstlich schlichen wir durchs Kornfeld, eine gute Tarnung, aber nicht nur für uns.

Während das Korn raschelte und wir uns vorsichtig umschauten, starrten wir die angstvollen Augen eines deutschen Offiziers, der noch in seiner Uniform steckte und dessen Pferd auf der Seite lag.

Er lag auch am Boden und zischte uns zu, nichts zu sagen. Es war kurz vor der Kapitulation und frühzeitig die Uniform abzugeben wurde als Fahnenflucht geahndet.

Wir waren im Flüchtlingsheim angekommen, haben dort übernachtet und niemand ist vergewaltigt worden.

Wieder zurück zum Bauern Schnidt, unserem derzeitigen

Zuhause.

 

Der Mai war gekommen und damit die Kapitulation der Deutschen.

Kriegsende!

Jubelnd wurden weiße Tücher überall geschwenkt.

Egal, was nun kommen würde, der Krieg war erst einmal zu Ende.

Nun war Frieden – jedenfalls in meinem Kopf. Von Bananen und Schokolade noch keine Spur. Auch von meinem Vater nicht. Ich tröstete mich damit, dass er ja erst meine Puppe besorgen müsse.

Weiß Gott, was ihn gehindert hat, gleich zu kommen und weiß Gott, was meine Mutter gehindert hat, ihr Versprechen einzuhalten, in Nix auf ihn zu warten.

Sie wollte einfach zurück in ihre Heimat, nach Wollin, zu ihrer ältesten Schwester, die dort eine Konditorei hatte, einen Garten und ein Haus.

Polnische Offiziere hatten sie gewarnt, das sei eine Finte der Russen... das Gerücht, dass die Deutschen zurück könnten.

Sie war nicht zu beeinflussen.

Hier begann das Verhängnis und hier wurden die Weichen gestellt für das weitere Schicksal unseres Vaters und damit auch unseres.

Meine Mutter hatte sich durchgesetzt. Wir mussten die gewonnene Geborgenheit wieder verlassen und die Hoffnung, den Vater bald wiederzusehen erst einmal begraben.

Wir waren mit unseren letzten Habseligkeiten am Bahnhof Rostock. Es gab sogar noch einen Schalter. Die Züge waren hoffnungslos überfüllt. Sogar auf der Lokomotive versuchten einige Halt zu finden. Heutzutage ist das eine geringe Entfernung, Rostock – Wollin. Damals dauerte es Tage.

Einmal landeten wir auf einem offenen Güterzug ohne Geländer – einfach eine Platte mit Rädern. Wir konnten uns an nichts festhalten, während der Zug über offene Bombentrichter nur auf den Gleisen fuhr. Das macht schon Angst! Unsere Schwester Ingrid hatte die meiste Angst, sie könnte mit zwölf die Gefahren schon realistischer einschätzen, als ich.

 

Mein Bruder zeigte seine Angst nicht. Auf einem Bahnhof, ich weiß nicht mehr, welcher waren mein Bruder und ich schon im Abteil – eingeklemmt zwischen Menschen und Gepäck, während Ingchen uns weinend und verzweifelt etwas zurief. Wir konnten nichts machen.

Plötzlich sahen wir, wie zwei polnische Krankenschwestern sich um eine am Boden liegende Person kümmerte – unsere Mutter – die zwischen Zug und Bahnsteig ohn-

mächtig geworden war.                                                                                                                                                                  

Die Abteiltür wurde energisch geöffnet und ein Fahrgast gebeten, seinen Platz freizumachen für unsere Mutter. Die Krankenschwester gab ihr zwei Bouletten und forderte sie auf, die alleine zu essen. So tapfer wir auch ablehnten, am Ende kauten wir alle. Wir sind also wirklich – trotz allem – nach Wollin gekommen. Im Garten von Tante Lene lagen ein paar faulende Äpfel herum.

Keine Tante Lene, keine Backstube, kein Wohnhaus.

War alles weg.

Wir kamen bei einer Gemüsefrau namens Dröse unter – zu viert in einem kleinen Zimmerchen.

Draußen waren die Trümmerfrauen am Werk und klopften Steine. Vor lauter Staub sah man sie kaum.

An einem Morgen schrie eine von ihnen ganz mark-

erschütternd – sie hörte gar nicht auf... es wurde von

einem Schreikrampf gesprochen.

Von unserem Vater hörten wir nur, dass er gesehen worden sei. Wir warteten und warteten, bis wir keine Wahl mehr hatten und mit dem letzten Schiff über das Pommersche Haff wieder gegen Westen schipperten. Das Schiff war ein offener Lastkahn trist und hässlich –

besonders bei Regen und ohne Schutz.

Eine winzige Kajüte bot kaum Schutz – sie war zu eng. Einmal musste ich mein Bein unter einem Körper hervorziehen, um mich minimal bewegen zu können.

Einmal saß ich mit Ingchen auf dem Boden an die Schiffswand gelehnt. Wir redeten über alles mögliche. Sie hustete viel. Das war besorgniserregend, weil sie lungenkrank war. Wir kraulten uns gegenseitig die Arme – jeder zehnmal.

Unser » Ausflug « in den Osten hatte einen bitteren Beigeschmack.

Eines Tages legte der Kapitän in Altwarp an. Meine Mutter schloss sich ihm an, weil sie etwas besorgen wollte. Sie hatte uns beruhigt, dass wir keine Sorge haben sollten, sie käme mit dem Käp'tn ja wieder zurück.

Nach einiger Zeit tutete die Schiffssirene – als Kind von der Küste, wußte ich, dass dann das Schiff ablegt.

Ich bekam Panik. Meine Mutter war noch nicht zurück. Ich rannte den Steg schreiend rauf und runter. Mein Bruder hatte Mühe, mich zu beruhigen. Als meine Mutter zurück kam und das Elend sah, sagte sie, das Schiff hätte doch ohne Kapitän gar nicht fahren können. Was zählt schon Logik bei Panik ? Ich ließ meine Mutter erstmal nicht aus den Augen.

Nach einer Reihe von tristen Tagen legte der Kahn in Ückermünde an. Wir gingen von Bord und kamen in einem Flüchtlinsheim unter. Mehrere Familien in einem Raum. Wir schliefen am Boden auf Matratzen.

Eine Frau bürstete ihrer Tochter ständig die Haare und schielte immer zu uns hinüber, weil wir uns so kratzten. Läuse-Angst. Wir hatten sie wohl schon...                                                                                                                    

Mein Bruder hatte ausgekundschaftet, wann und was es zu essen gab. Morgens um zehn jeder eine Scheibe trocken Brot und abends um fünf noch eine.

Mittags gab es Wassersuppe, wie wir das nannten - mit ein paar Kartoffeln und kaum Gemüse. Ich hab sie, glaube ich, gemieden.

Statt dessen lungerten wir nach der Schubkarre mit Brot.

Ich rätselte einmal mit Ingchen herum, ob schnell essen oder Krümel für Krümel mehr sättigen.

Wir hatten genug Zeit, das heraus zu finden – aber satt geworden sind wir nie.

Mein Bruder konnte alles! Er machte Einkaufstaschen aus Bindfäden. Wo er die Bindfadenrollen her hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls tauschte er die gegen Lebensmittel ein.

Der zwölfte August war endlich da – mein siebenter Geburtstag!

Torte und Geschenke waren nicht zu erwarten, das war klar. Trotzdem freute ich mich über die Aufmerksamkeit, die ein Geburtstag mit sich bringt.

Dem Trocken-Brot-Lieferanten mit der Schubkarre verkündete ich, dass ich Geburtstag hätte und prompt bekam ich eine Scheibe mehr, was gut war, weil mein Bruder keine bekam, weil er mal eine geklaut hatte. So konnte ich ihm eine abgeben, ohne selber verzichten zu müssen.

Ein Blick aus dem Fenster ist immer gut, wenn sonst nichts los ist, aber , was ich da sah – hatte ich noch nie gesehen.

Ich sah eine Gruppe von Russen auf der Kuhweide, wo eine Kuh friedlich graste. Einer hob das Gewehr und schoß auf das Tier. Die Kuh, die noch eben ahnungslos graste, lag nun tot auf der Wiese.

Einige Frauen liefen gleich dorthin – Kinder natürlich auch. So auch unsere Mutter. Mit blutigem Gedärm auf einer Schubkarre kam sie zurück. Ich ekelte mich fürchterlich. Angewidert fragte ich, was sie damit denn wolle.

Das Fett abkratzen. Am nächsten Tag stand ein Topf mit reinem weißen Talg auf dem Tisch. Und kurz danach stand ein Kuchen auf dem Tisch. Ich sagte ja, mein Bruder kann alles.

Von unserem Vater hatten wir immer noch nichts gehört und wir hatten auch keine Möglichkeiten, etwas in Erfahrung zu bringen.                                                                                                               

Die Situation im Lager wurde immer unbefriedigender und unsere Mutter hatte sich mit einiger Familie zusammen getan, um bei Nacht und Nebel zu verschwinden.

Wir teilten uns eine Karre mit 2 Rädern, 2 Deichseln und statt eines Pferdes ging einer von uns und zog die Karre im Wechsel.

Die Karre reichte für unser aller Habseligkeiten aus – es war nicht mehr viel.

Irgendwann trennten sich unsere Wege.

 

Wir fanden für unsere paar Sachen im Straßengraben noch eine Karre mit nur einem Rad – eine Schubkarre.

Meine Mutter hatte uns eingeweiht, dass unser Ziel Frankenfelde sein würde, ein kleies Dorf im Oderbruch – in der Nähe von Eberswalde.

Berlin war auch nicht weit.

Eine anstrengende Zeit lag vor uns. Es ging zu Fuß über die Landstraße, manchmal bei großer Hitze und ohne Wasser.

Einmal waren es vierzig Kilometer.

Manchmal, wenn  meine Beine nicht mehr tragen wollten, durfte ich zeitweilig auf die Karre – dann schob mein Bruder.

Wir waren von Anklam über Pasewalk, Prenzlau und Angermünden Richtung Süden aufgebrochen.

In Pasewalk mussten wir auf der Straße schlafen. Meinen Schultornister, in dem einige wichtige Dinge waren, die man in einem solchen vielleicht nicht vermutete, unter meinen Kopf legen, damit ich merken könnte, wenn

der entwendet würde.

Am nächsten Morgen, als ich wach wurde, war er weg.

Mein Goldkettchen mit dem Herz-Anhänger war auch drin.

So ging es weiter, vorbei an einem schlafenden alten Mann, der nicht weit von mir gelegen hatte. Bei genauerem Hinsehen, sahen wir, dass er tot war.

Wir zogen weiter und kamen durch verlassene Ortschaften.

Die leer stehenden Häuser sahen teilweise noch wohnlich aus und es standen noch Möbel darin herum – fast einladend, dort zu bleiben.

Wir übernachteten in einem der Häuser.

Die Abendsonne schien ins Zimmer, fast wie Zuhause.                                                                                                                                     

Der neue Tag schien heiß zu werden. Wir hatten ungefähr 40 Kilometervor uns. Am Nachmittag waren wir völlig erschöpft, durstig und hungrig.

Ein Wasserhahn am Feldrain schien die Rettung zu sein. Gierig schlürften wir das erfrischende kalte Wasser bis uns ein junger Pole mit der Pferdepeitsche von dort vertrieb. Die Polen hatten Wut auf die deutschen Flüchtlinge. Ich kannte bisher nur die freundlichen polnischen Arbeiter von Herrn Schwarz.

Erschöpft schlichen wir weiter und kamen zu einem großen Haus unter schattigen Bäumen. In ihrer Verzweiflung klingelte meine Mutter dort. Die Tür ging auf und eine freundliche Frau, die ihren Blick kurz prüfend über unsere kleine Schar geworfen hatte, bat uns hinein.

Ich kann mich nur noch an die erquickende kalte Heidelbeersuppe mit Grießklösschen erinnern.

Am nächsten Morgen mussten wir weiter. Es sei nun nicht mehr so sehr weit, meinte meine Mutter.

 

Sie erzählte auch, dass Onkel Richard Bürgermeister von Frankenfelde sei und ein Bruder ihres verstorbenen ersten Mannes ist. Dort würden wir gut aufgehoben sein, meinte sie auch noch.

Das Haus des Bürgermeisters hatte sich in meiner Vorstellung zu einem ziemlich stattlichen Gebäude  zurecht gewachsen. Zwar kein Rathaus, aber für ein Dorf schon ganz schön ansehnlich. Ich freute mich sehr, bald anzukommen als Nichte des Bürgermeisters.

Nun war der Tag gekommen und meine Mutter sagte – da sind wir!

Ich traute meinen Augen nicht. Wo war das stattliche Haus?

Statt dessen prangte ein großer Misthaufen mitten auf dem Hof und stank bestialisch mit der Jauchegrube um die Wette.

Das war nun das Haus, schlicht und grau und schmucklos.

Gegenüber war die Scheune, in der eine große Dreschmaschine stand.

Links vom Haus war ein Taubenschlag.

Auf dem Holztor draußen war in großen Buchstaben

» TYPHUS « zu lesen.                                                                                                                     

Das hatten die Leute fast alle auf ihre Tore geschrieben zur Abschreckung.                                                                                                                                                                                                                              

Onkel Richard, der Bürgermeister, hatte eine kleine ausgemergelte Frau mit meckernder Stimme, Tante Adelheid.

Er selbst war ein ruhiger, stiller Mann mit einem Schnauzbart, der nicht viel sagte – das Sagen hatte Tante Adelheid.

Sie hatten nur wenige Tiere, ein paar Gänse, Tauben und ein oder zwei Ziegen.

Den Ganter habe ich noch in schlechter Erinnerung, weil der sehr zudringlich werden konnte. Einmal versuchte ich,  ihn mir mit der Pferdepeitsche vom

Leibe zu halten, als er zischend drunter her rannte und mir ins Bein zwackte.

Ein Flur – ziemlich dreckig - führte in die Küche. Rechts vom Flur war ein Zimmer, in dem wir schlafen sollten.

Da war auch ein Ofen oder Kamin.

Ich teilte das Bett mit Ingchen und meine Mutter hatte das Bett gegenüber.

Hänschen schlief bei Ferdinand, dem Sohn, also seinem Cousin.

Ferdinand hat immer gesungen – » Regentropfen, die an dein Fenster klopfen, die sagen dir, ich will nen Kuss von dir... « und rollte dabei mit den Augen.

Ich war dann immer ziemlich verlegen. Er war 17.

Einmal lockte er mich in den Ziegenstall und zeigte mir durch einen Spalt eine Ziege von hinten. Ich ekelte mich fürchterlich. Ihr hing die Nachgeburt hinten heraus. Ich hatte gedacht, ihre Eingeweide. Was wusste ich schon von Nachgeburt – gar nichts. Von dem Zicklein hatte ich nichts gesehen.

Wir ahnten und gewöhnten uns an den Gedanken, dass die besten Zeiten nicht angebrochen waren. Wir zerlumpten so langsam, denn viel anzuziehen hatten wir nicht.

Meine Schwester fand ein Kleid aus schwarzer Spitze von unserer Mutter, das nur für bessere Anlässe getragen wurde und deshalb noch gut erhalten war, Ingchen bei der Arbeit auf dem Kartoffelacker zu bekleiden.

 

Es hatte nur einen Makel – es war nicht warm genug für die Arbeit auf dem Kartoffelacker im Oktober!

Wir mussten alle bei der Arbeit helfen. Ich hatte abends die Tauben in den Taubenschlag herbei zu gurren. Irgendwann hatten die begriffen, dass sie, wenn eine kleine, dürre Göre dort steht und gurrt, dass sie zu kommen hatten.

Mein Bruder hatte in der Tenne das Korn mit einem Dreschflegel zu bearbeiten.                                                                                                         

Am liebsten sah ich meinem Bruder beim Dreschen zu, wenn ich nicht gerade Dreck weg zu schrubben hatte.

Endlich wurde eines Tages die große Dreschmaschine in Betrieb genommen. Sie machte einen Höllenlärm, während Onkel Richard von oben die Ähren in den Schlund der Maschine schob, damit der Spreu vom Weizen getrennt wird. Zahlreiche Mäuse sprangen aufgescheucht herum, und eine verkroch sich unter Onkel Richards Hemd, was den ganz fuchtig machte. Er holte sie hervor und warf sie zu Boden.

Mäuse gab es reichlich. In unserem Schlafzimmer rannten sie nachts unter den Betten herum. Ich nahm sie bald kaum noch wahr, zumindest nicht auf die zimperliche Art, wie bei vielen kleinen Mädchen.

Lief mir eine über den Weg, nahm ich sie und schlug sie aufs Pflaster, dann lief Blut aus ihrem Mäulchen und sie war tot.

Es tat mir nicht leid. was ich aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehen kann. Ich töte nicht mal Fliegen.

Als ich einmal mit meiner Schwester nicht einschlafen konnte und wir Hunger verspürten, fiel mir der Sack mit Pferdefleisch ein – Die Ration fürs ganze Dorf.

Ich holte ein Messer aus der Küche, nahm schnell noch eine Schöpfkelle Sahne zu mir, die dort in großen Töpfen herum stand und schlitzte den Sack auf, um zwei Stücke Fleisch heraus zu schneiden. Gierig kauten wir darauf herum - wir hatten noch nie rohes Pferdefleisch gegessen. Es war ziemlich zäh. Ich versuchte mich auch noch an dem zähen Stückchen, das Ingchen nicht klein kriegte und gabs schließlich auch auf. Wir schliefen dann wohl auch ein.

Als ich wach wurde, sah ich Blut auf der Brust meiner Schwester. Ich erschrak.

Hat sie Blut gespuckt oder waren das noch Reste von dem rohen Fleisch?

Sie war lungenkrank.

Der trostlose Alltag ging weiter – so wie immer. Mein Groll gegen Tante Adelheid steigerte sich.

Ich schlich mich an einem der nächsten Tage auf die Dreschmaschine. Ein gutes Versteck da oben, wo Onkel Richard gestanden hatte. Ich kauerte mich da hinein, so dass mich niemand sehen konnte. Ein paar Bucheckern hatte ich auch dabei, während Adelheid  schon schimpfend nach mir rief, dem faulen Stück... ich hatte keine Lust. Ich fühlte mich hier oben sicher und konnte den Mund deshalb auch ziemlich voll nehmen. Ich wollte ihr endlich mal meine Meinung sagen.

Ich warf ihr alles vor, was mich die ganze Zeit geärgert hatte, auch, dass sie meine kranke Schwester auf den Kartoffelacker schicken würde bei Wind und Wetter. Ich nahm den Mund ziemlich voll und war danach erleichtert, knabberte noch ein paar Bucheckern und grübelte über allerlei.

Irgend wann mußte ich natürlich wieder runter und vermied es, Adelheid über den Weg zu laufen.

Wir hatten Läuse, nicht nur auf dem Kopf, auch in der Unterwäsche hatten sich die Biester eingenistet.                                                                                

Wenn ich manchmal auf den Treppenstufen des Hauses saß, machte ich Jagd auf die Viecher und zerquetschte sie zwischen den Daumennägeln.

Die Körperläuse nahm ich mir abends im Bett vor mit der gleichen grimmigen Inbrunst.

Manchmal saß ich aber auch auf den Treppenstufen, wenn ich nichts zu tun hatte. Und wenn ich Glück hatte, hatte ich einen Teller mit Erbsensuppe auf dem Schoß. Ich fischte immer nach den kleinen rosa Keimen und stellte mir

vor, dass das Fleisch sei.

Wir waren inzwischen nicht mehr nur abgestumpft und verroht.

Wir verwahrlosten immer mehr.

Als ich eines Tages in das Zimmer kam, wo wir schliefen, stank es nach verbrannten Haaren. Ingchen hatte sich ihre schönen langen Zöpfe in ihrer Verzweiflung abgeschnitten und im Ofen verbrannt. Damit war sie die Läuse zwar noch nicht los – die sitzen ja auf der Kopfhaut, aber sie hatte sich wenigstens gewehrt...

Unsere Mutter war inzwischen sehr krank geworden. Ihre Beine waren so angeschwollen, daß sie nicht mehr in die Pantinen kam. Die Haut glänzte, so straff war sie gespannt über dem aufgedunsenen Fleisch ihrer Beine.

Sie hatte Wassersucht und konnte kaum noch laufen.

Außerdem litt sie unter großen Schmerzen und einem unstillbaren Durst. Sie durfte auch nichts trinken.

Ärztliche Versorgung war nicht verfügbar.

Einmal brachte ich ihr eine reife rote Tomate, die ich irgendwo geklaut hatte. Gierig hat sie sie verschlungen und gab mir einen dankbaren Blick.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              

Es kam dann auch der Tag, an dem sie uns zusammen rief, um uns zu sagen, dass sie nicht mehr gesund werden würde und wohl sterben müsse.

Sie werde Onkel Franz – ihren jüngsten Bruder in Berlin und Vater von Traudchen, unserer Cousine – bitten, sich um uns zu kümmern und diktierte meinem Bruder einen Brief mit dem entsprechenden Inhalt.

Ich hatte schon nichts Gutes geahnt. Aber jetzt war ich so verzweifelt – wie noch nie.

Bitte, bitte – nicht sterben!

Die Gewißheit kam wie ein kalter, unaufhaltsamer Hauch und ich wußte, dass mein Bitten umsonst sein würde.

 

Hänschen nahm sich zusammen und war » tapfer «.

Tapferkeit hatten die Kriegsherren zu allen Zeiten schon den jungen Männern als Tugend verkauft, ohne ihnen den Preis genannt zu haben.

Ein paar Tage nach der schweren Stunde der Wahrheit gingen wir am Nachmittag über das Stoppelfeld.

Die Sonne schien auch und es war noch warm.

Ich ging hinter allen her, um die fühlbare und noch vorhandene Anwesenheit meiner Mutter ungestört auf mich wirken zu lassen. Sie war noch da – zum Sehen und zum Anfassen.

Ich habe tief ein- und aus geatmet, als hätte ich sie dadurch in mich aufnehmen können, um sie für immer bei mir zu behalten.

Das war der Abschied von unserer Mutter.

Am nächsten Tag kam eine fremde Frau, die sie mit nach Wriezen nehmen wolle, um sie zu pflegen.

Eine vage Hoffnung war bei uns, dass wir sie gesund zurück bekommen würden. Das tröstete uns über die Zeit, aber wir hörten nichts mehr von ihr.

Verzagt nahmen wir den Alltagstrott wieder hin.

Ich hatte inzwischen Geschwüre an den Füßen, die nicht heilen wollten und musste die lästigen Fliegen daran hindern, sich an meinem Eiter zu laben.

Ich meine, meinen rechten, blank liegenden Knöchel ge-

sehen zu haben.                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Eines Tages war Adelheid hektischer als sonst.

Es wurden Tauben geschlachtet, es wurde aufwendiger gekocht als sonst, denn hoher Besuch stand ins Haus.

Ich wurde noch ermahnt, mich ja nicht zu kratzen, wenn der Besuch da sei.

Russische Offiziere von der Kommandantur trafen den Bürgermeister.

Ich stand verlegen im Flur herum und konzentrierte mich aufs Nichtkratzen.

Das ging so gerade, aber meine Füße konnte ich nicht verstecken, denn ich war barfüßig. Die Geschwüre erregten dann auch die Aufmerksamkeit der Offiziere.

Ich weiß nicht mehr, was Adelheid gestammelt hatte. Sie schob es auf die Zustände und damit hatte sie ja auch Recht.

Schließlich liessen sie von meinen Geschwüren ab und wandten sich den gebratenen Tauben in Sahnesoße zu.

Die Geschwüre eiterten weiter. Die Offiziere hatten nichts unternommen.

In Gollnow hatte mein Bruder einen Sanitätskasten gehabt für kleine Verletzungen. Mein Vater hatte ihn immer den kleinen Doktor genannt.

Ich hab noch gar nicht erwähnt, dass ich in die Dorfschule musste. Das hab ich aber nicht lange mitgemacht, denn ich war gehänselt worden.

Gründe dafür hatten die genug: es reichten schon die durchlöcherten und ungepflegten Klamotten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir in dieser Zeit je frische Unterwäsche hingelegt wurde, oder mein Kleid gewaschen wurde, geschweige denn, frische Strümpfe.

 

Eine Dorfgöre fragte mich mal, ob ich mich nicht schämen würde über die Löcher in meinem Kleid. Ich sagte, dass ich Zahnschmerzen hatte und auf dem Kleid herum gekaut hätte, weil das hilft.

In solchen Momenten hatte ich eine stoische Ruhe. Das hat mich einfach nicht erreicht, dieses Geschwätz einer ahnungslosen Bauerngöre.

Was wusste die denn schon?

Ich hatte kein schlechtes Gewissen beim Schwänzen – es fragte aber auch niemand. Ich hörte nur noch auf meinen Bruder.                                                       

Ich ging so oft an die Sahnetöpfe, so oftes niemand sah.

Mein Bruder auch.

Ingchen hätte es nötig gehabt – sie tat es nicht.                                                                                                                                                                                                                                      

An einem grauen Oktobertag – ich kratzte gerade den Dreck von den Küchenfliesen – erschien die Frau wieder, die unsere Mutter geholt hatte und wollte Adelheid sprechen. Ich hatte sie geholt und kratzte eifrig weiter, um zu hören, was die sagte.

Die sagte: » Frau Hermann ist gestorben. « Dieser kurze  und knappe Satz hat mir den Atem verschlagen.

Entsetzt rannte ich zu meinem Bruder, der in der Tenne war und sagte – Mutti ist tot.

Er war rat- und sprachlos und gab mir verdattert einen Kuss. Er ging dann zu  Ingchen, um es ihr auch zu sagen. Ingchen weinte sehr – sie war von uns die sensibelste.

Ich konnte nicht weinen,

es kamen einfach keine Tränen.

Mein Bruder – wenn er weinte – eher heimlich, das wir das nicht mit bekommen.

Wir hatten ja schon keine guten Ahnungen – aber die Gewißheit ist niederschmetternd. Sie ist gestorben und wird nie, nie wieder kommen.                                                                                                                            

Onkel Franz musste benachrichtigt werden. Heute würde man einfach zum Telefon gehen, aber 1945 gab es in dem Kaff kein Telefon.

Hänschen hat einen Brief geschrieben...

Meine Cousine sagte mir sehr viel später, er hätte plötzlich in der Tür gestanden. Das weiß ich alles nicht mehr so genau.

Die Familie meines Onkels war erschüttert, sie hatten ja keine Zwischenberichte über unser Ergehen bekommen.

Mein Bruder legte der Familie vor allem unsere Schwester ans Herz, dass sie sehr krank sei und es schlecht um sie stünde.

Wie ich später erfuhr, war die Entscheidung der Familie nicht ganz leicht. Sie lebten schon zu fünf Personen in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung.

Traudchen hatte wohl an der Entscheidung zu unseren Gunsten keinen geringen Anteil gehabt, wie ich vermute.

Es dauerte nicht lange, bis ein alter Lieferwagen mit drei Rädern auf den Hof gerattert kam. Onkel Franz.

Er war erschüttert, als er sah, wie herunter gekommen wir waren.

Immerhin hatten mich Tante Adelheid und Onkel Richard nicht in meinem zerlöcherten Kleid nach Berlin fahren lasen. Sie hatten eine BDM-Jacke aufgetrieben und einen viel zu langen Rock in beige. Begeistert war ich nicht.

Endlich kam Onkel Franz zum zweiten Mal, um auch uns zu holen. Wir quetschten uns zu dritt nach vorne und tuckerten nach Berlin.

Schließlich standen wir in der Öttingstraße 5, in Berlin-Köpenick, vor der Tür. Mein Herz klopfte wie wild und ich musste heftig mit dem Kopf schütteln.

Ich hatte noch nicht erwähnt, dass sich irgendwann dieser Tick bei mir eingeschlichen hatte und ich dadurch schon in Frankenfelde aufgefallen war.

Es nicht so, dass mir das Spaß gemacht hätte – ich musste ihn einfach schütteln.

In der Fachsprache heisst das zwanghaft.                                                                                                                     

Die Tür ging auf und alle standen im Türrahmen. Walter, mein Cousin sagte lachend » da ist ja unsere kleine Oma. «

Schüchtern und verlegen stand ich da.

Die Begrüßung war herzlich – wir wussten ja nicht mehr, was Herzlichkeit ist.

Wahrscheinlich sind wir erstmal durchgefüttert worden, ehe wir in die Wanne kamen. Ich ließ alles geschehen und wollte ein ganz liebes Kind sein - anders als bei Adelheid. Hier wollte ich bleiben für immer niemals Ärger machen.

Es gefiel mir alles so gut – die geblümten Kissen auf der Küchenbank unter  dem Fenster und das gemütliche Wohnzimmer. Hier war alles so schön.

Und ich bekam ein eigenes Bett im kleinen Zimmerchen neben der Oma.

Traudchen schlief bei ihren Eltern auf der Besuchsritze, was für eine Siebzehnjährige eher ungewöhnlich ist, um nicht ein Opfer zu sagen.

An Omas gregorianische Gesänge - mitten in der Nacht – musste ich mich erst gewöhnen. Oma war die alte Mutter von Tante Meta und kam aus dem Osten, den ich heute noch gerne höre. Sie war auch sehr fromm und

hatte eine dunkle etwas brüchige und raue Stimme.                                                                                                                                                                                                                                                      

Abends erzählte sie mir fromme Geschichten vom Garten Eden. Die Bäume dort würden jeden Monat Früchte tragen. Dort wollte ich auch hin.

Über Omas Bett hing ein Bild mit spielenden Engelchen,  so würde das im Garten Eden auch sein, dachte ich.

Für meinen Bruder wurde eine Matratze auf den Boden im Wohnzimmer gelegt. Walter – unser Cousin schlief auf dem Sofa.

Unsere Verwandten sind im wahrsten sinne sehr eng zusammen gerückt, um für uns Platz zu schaffen.

Am nächsten Morgen – es gab vorher Frühstück – brachte meine Cousine mich in die Entlausungsanstalt und erklärte, was ich da machen müsse und auch den Weg nach Hause.

 

So war ich das erste Mal auf mich selbst gestellt in der großen Stadt Berlin.

Die Leute dort sagten mir genau, was ich zu machen hätte. So nahm ich nach der Prozedur dann mein Bündel und machte mich auf den Weg. Einmal musste ich fragen, dann fand ich mein neues Zuhause ganz leicht.

Tante Meta sah eigentlich ziemlich streng aus. Sie hatte ihr graues Haar zu einem Knoten gebunden und hatte

dicke schwarze Augenbrauen über ihren blauen Augen, die aber freundlich blickten. Sie trug gerne Schneiderkostüme, die auch ein wenig streng wirkten.

Nach der Entlausung kamen meine Füße an die Reihe. Hänschen war wieder mit Verbandszeug ausgestattet. Es heilte aber nicht sofort, was bei so hartnäckigen Geschwüren eigentlich kein Wunder ist. Hänschen bediente sich der psychologischen Keule und sagte » wenn die in einer Woche nicht geheilt sind, dann hacke ich dir die Füße ab. « Das hatte gewirkt. Nach Behandlung mit einer wirksamen Salbe ging die Heilung voran, worüber ich reichlich froh war.

Entlaust und geheilt, begann ich meine neue Umgebung wahrzunehmen, immer noch kopfschüttelnd und sehr schüchtern.

Ich zog es vor, nicht am Familientisch zu essen, sondern lieber unbeobachtet in der Küche.

Tante Meta ließ mich einfach und drängelte nicht.

Wenn mein Teller leer war, kratzte ich hörbar darauf herum, bis Tante Meta kam und mich fragte, ob ich noch mehr haben wollte.

 Ich wollte.

Mein Selbstbewußtsein hatte einen erheblichen Knacks bekommen und so holte ich mir langsam meine Würde sehr vorsichtig zurück.

Abends war es in der Öttingstr. Nr. 5 gemütlich und gesellig. Es kamen Freunde von Traudchen und Walter und spielten mit uns Mikado oder andere Spiele.

Einmal allerdings kam ein kinderloses junges Ehepaar. Vorsichtig wurde mir beigebracht, dass die keine Kinder hätten und so... bei mir gingen alle Sensoren auf Abwehr. Die sollen ja nicht denken, dass sie mich hier raus holen könnten.

Der Name der Leute war Schuler. Frau Schuler wollte mich auf den Schoß nehmen – ich wollte nicht. Sie nahm mich trotzdem vorsichtig auf ihre Knie mit freundlichen Worten. Ich bedeckte mein Gesicht mit meinen Händen und gab mich sperrig wie ein Ziegenbock. Ich gab auch keine Antworten auf ihre Fragen. Sie bot mir einen Bonbon an, den ich ablehnte aber genau schaute, wo der hingelegt wurde. Schließlich waren sie gegangen und ichmusste mir einiges über meine Verstocktheit anhören.

Den Bonbon holte ich mir erst aus dem Schrank, als er in Vergessenheit geraten war und mich keiner hänseln würde.

 

Ich kam dann auch in die Schule, gleich in der Nähe vom Geschäft meines Onkels. Mit den hübsch angezogenen Mädchen hatte ich nicht viel gemeinsam, obwohl ich schon mit einem neuen Kleid nicht mehr so schäbig aussah.

 

Ich kam vom Land, sprach pommerschen Akzent und sah doof aus. Alle Mädchen fielen über mich her, ob ich das schon lesen könne und so.

Ich drängte sie mit meinen Armen nach hinten, weg von mir und murmelte » ich werde das schon können. «

Sympathien habe ich mir bei den Mädchen mit den Schätzen meiner Cousine, Lackbilder und Buntstifte erworben, die ich großzügig verteilte.

Später malte ich kleine Bildchen und versorgte die mit dem Nagellack meiner Cousine – die waren auch begehrt und ich bekam Sympathien dafür.

Eine Glanzleistung ist mir mit meiner ersten Rechenarbeit gelungen. Die von der Lehrerin an die Tafel geschriebenen Sufgaben hatte ich abgeschrieben und war als erste fertig. Ich wunderte mich, dass die alle so lange brauchten und dachte, so schnell sind die in Berlin nun auch wieder nicht.

Die Hefte wurden eingesammelt und nach ein paar Tagen bekamen wir sie zurück.                                                                                                                  

Ich hatte eine Sechs, die höchste Note, wie ich dachte und ging prahlen, ohne zu wissen, dass die sechs die schlechteste Note ist.

Eigentlich hätte ich das wissen müssen, war ja in Pommern schon in der Schule.

Dafür wurde ich belehrt, dass ich die Aufgaben ausrechnen sollte und nicht nur abschreiben. Das sollte mir nicht noch einmal passieren.

Ich gewöhnte mich immer mehr an mein neues Zuhause.

Eine neue Freundin hatte ich auch schon: Heidi aus der Öttingstraße 7, nur 2 Häuser weiter.

Hänschen bekam eine Lehrstelle bei Herrn Woskowiak als Elektrotechniker.

Es hatte ihm viel Spaß gemacht. Er bastelte zu Hause in der Küche immerzu an irgendwelchen Radios herum. Ich fand die magnetischen Lautsprecher interessant und pappte Metas Stecknadeln immer dran, die dann kleben blieben.

Einmal gab mir Hänschen einen Kondensator in die Hand und sagte ganz ernst » auf keinen Fall fallen lassen! «, als er das Teil unter Strom setzte. Ich war starr vor Schreck, während er hämisch grinste. Ja – so können große Brüder auch sein.

Ingchen war in der Klinik in Buch. Tante Meta und Traudchen besucht sie dort, so oft sie konnten. Hänschen und ich durften nicht hin, weil wir uns bei ihr schon angesteckt hatten, aber in leichter Form – nur Schatten – unsere

Schwester hatte Löcher in der Lunge. Bei ihr war die Krankheit weit fortgeschritten. Sie machte langsam Fortschritte und nahm an Gewicht zu. Sie blieb zweieinhalb Jahre in der Klinik.

Während wir mitten im bürgerlichen Leben angekommen waren mit Schule und Lehrstelle, fragten wir uns natürlich, was mit unserem Vater war.

 

Würde er zurück kommen? Lebte er noch?

Ja – er lebte noch, was wir damals nicht wussten.

Er lebte nicht weit von Berlin in Oranienburg im ehemaligen Konzentrationslager » Fünfeichen «, das die Russen zum Gefangenenlager umfunktioniert hatten.

Er wusste genau so wenig über uns wie wir über ihn.

Auch nicht, dass uns nur wenige Kilometer trennten.

Fünfeichen, das klingt fast wie ein Erholungspark. In Wirklichkeit war es die Hölle – sowohl für die Juden, wie auch für die Kriegsgefangenen.

Wie wir sehr viel später vom Roten Kreuz erfahren haben, sei er 1948 in Gefangenschaft in Fünfeichen gestorben. Nach Zeugenaussagen verhungert.

Aus Medienberichten erfuhr ich von den Massengräbern, die dort entdeckt worden sind. Meine Schwester Lieselotte war 1945 aus Russland zurück gekommen und hatte uns 1946 in Köpenick besucht. Sie ging nach Hamburg, wo sie auch auf Willi – unseren gemeinsamen Bruder traf.

In Köpenick lief der Alltag weiter. Mein Onkel hatte ein Bettengeschäft.

Da die Menschen damals nichts kaufen konnten, brachte sie ihre Betten zum Reinigen. Die Daunendecken und Steppdecken wurden aufgetrennt, die Stoffe gewaschen und die Federn und Daunen in der großen Reinigungsmaschine gereinigt. Ich hatte beim Trennen oft geholfen und

musste die Stoffe auch in die Wäscherei bringen.

Ich musste dann über einen Hof vorbei an einem Kettenhund. Seine Kette ließ einen Meter zwischen Abstand zwischen uns. Er war ein Ungeheuer.

Der verrückte Hahn dort ist mir schon einmal auf den Kopf geflogen.

Das war jedes Mal eine Mutprobe.

Ich sollte dort auch Milch holen in der Milchkanne. Dann musste ich durch das Treppenhaus. Eines Tages befand sich der Hund im Treppenhaus und stieg mit mir mit gefletschten Zähnen hoch. Mir schlug das Herz bis zum

Halse.

Ich versuchte dem knurrenden Ungeheuer ruhig zuzureden, was nicht leicht war mit dem Kloß im Hals.

Als die Tür geöffnet wurde, wollte er mich anspringen, wurde Gott sei Dank, daran gehindert. Ich war etwa 10 Jahre alt.

Meine Schwester Ingrid war soweit genesen, dass sie die Klinik verlassen konnte. Sie würde auf meine Schule kommen, was mich riesig freute.

Meine große Schwester und ich zusammen auf dem Schulhof.

Onkel Franz und Tante Meta hatten nach guten Pflegeeltern gesucht für Ingchen, weil sie bei uns keinen Platz mehr gefunden hätte.

Herr und Frau Schlosser waren ein kinderloses Ehepaar und sehr liebe Menschen. Sie hatten ihr ein wunderschönes Zimmer mit rankenden Rosen am Fenster eingerichtet. Ich habe sie dort gerne besucht.                                                                                                                                                                                                                 

Einmal hatte ich für sie Holunderblüten-Zweige geklaut, die rochen streng und meine Füße waren schwarz – aber ich kam mit besten Absichten.

Eines Abends war wieder mal Walter Kloppmann, Walters Freund – bei uns.

Er begrüßte mich immer mit Frau Doktor, weil ich mal gesagt hatte, dass ich nur einen Doktor heiraten würde – abgelauscht von einer etwas älteren Freundin, die nur einen Millionär heiraten würde.

Naja – ich hatte schon einiges an Neckerei bei den großen Jungs aushalten müssen, aber es gibt schlimmeres.

Ingchen war inzwischen in meiner Schule. Ich hab auf dem Schulhof pausenlos Handstand gemacht, um meiner großen Schwester zu imponieren.

Sie musste sich nach all den Jahren erst einmal eingewöhnen.

Als sie mal an einem offenen Fenster in der Klasse sass, mochte sie nichts sagen, dassihr das schlecht bekommen könne. Sie wurde krank und musste in ihrem schönen Rosenzimmer das Bett hüten.

Ihre Pflegeeltern – die Schlossers kamen manchmal in den Laden und sahen zunehmend besorgter aus. Ingchen hatte schon den ersten Blutsturz bekommen, insgesamt waren es fünf.

Die Verantwortlichen für den Transport in die Klinik machten sich Sorgen, ob sie das überstehen würde. Der Transport war geglückt. Sie war wieder in der Klinik – noch drei Monate.

Sie kamen in den Laden und weinten, da wusste ich sofort, was das zu bedeuten hatte. » Ingchen ist heute früh eingeschlafen «, schluchzten sie.

Es war das Jahr 1948, das Jahr, in dem auch unser Vater gestorben war.

 

Fotografin: Celia Wagner www.celia-wagner.com
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