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Hosam

Die Polizei rufen – nur weil es einem zu laut ist im Haus? Hosam schüttelt den Kopf, wenn er davon erzählt. In Syrien würde kein Mensch auf so eine Idee kommen. Dabei hätte alles gut sein können. Nachdem er monatelang allein in Wuppertal leben musste, war er endlich wieder mit seiner Familie – mit seiner Frau und den drei Kindern – zusammen. Die Wohnung lag in Oberbarmen. Hosams Sohn, 17 Jahre, und seine ältere Tochter, 15 Jahre, hatten es so nicht weit zu ihren Schulen. Doch im Haus gab es Probleme mit einer Studentin. Immer wenn sie abends Geräusche im Haus hörte, machte sie Hosams Familie dafür verantwortlich. Sie könne so nicht schlafen, sagte die Studentin zu ihm, und sie müsse morgens früh aufstehen. Hosam verstand nicht. Er hatte seine Kinder ermahnt: „Wir müssen wie die Leute hier leben.“ Deshalb sollten sie abends in ihr Zimmer gehen und ruhig sein. Er fragte die Nachbarn auf seiner Etage: „Hören Sie etwas?“ „Nein“, antworteten die.

 

Doch die Probleme hörten nicht auf. Und dann kam diese Nacht, in der die Polizei bei ihm klingelte. Da war es zwei Uhr morgens. Die Studentin hatte sich bei den Beamten wegen Ruhestörung gemeldet. Da lag die Familie schon seit Stunden im Bett und schlief. Oder versuchte wenigstens zu schlafen. Was nicht immer leicht ist – nach all dem, was sie in den letzten Jahren in Syrien erlebt hat. Besonders Hosams jüngste Tochter, 9 Jahre alt, hatte nach der Ankunft im März 2016 noch lange böse Träume. Sie träumte von den Bombardierungen auf die Heimatstadt Salamiyya. Ja, das war eine schwere Zeit, sagt Hosam und seufzt. Schwer – dieses Wort fällt immer wieder, wenn man ihn nach seinem früheren Leben fragt.

 

Jetzt wohnt er mit seiner Familie in einem Mietshaus in Elberfeld. Sein Sohn und seine ältere Tochter nehmen die Schwebebahn zur Schule. Das geht schon. Die jüngere Tochter kann eh in der Nähe zur Schule gehen. Was auch gut ist: Direkt in der Wohnung unter ihnen wohnt eine zweite syrische Familie. Sie hat eine Tochter im gleichen Alter wie Hosams Tochter. Wenn man nachmittags zu Besuch kommt, toben die beiden Mädchen durch die Wohnung und niemand stört sich daran. Das Wohnzimmer ist gemütlich. Wie in tausenden anderen deutschen Wohnungen stehen hier Fertigbaumöbel neben einer breiten, bequemen Couch und Sesseln. Das ist natürlich kein Vergleich zum früheren Leben vor dem Krieg. Doch Hosam musste zuerst an das Überleben seiner Familie denken: „Sie sind sicher. Das ist das Wichtigste.“

 

Auf einem Laptop, den seine Frau bei ihrer Flucht mitbrachte, zeigt Hosam dem Gast Fotos vom alten Haus der Familie in Salamiyya. Er hat es selbst gebaut. Einen Blumengarten angelegt und einen Acker, auf dem er Gemüse anbaute: Tomaten und Petersilie, Auberginen und Zucchini. „Ich war Biobauer“, sagt Hosam und lacht, weil ihm das deutsche Wort so gut gefällt. Das Geld fürs Haus hatte er sich durch die Mitarbeit im Fliesengeschäft seines Vaters verdient. Dabei hatte er etwas ganz anderes studiert: arabische Literatur. An der Universität lernte er seine Frau kennen. Mit seiner Liebe zur Literatur hätte er kein Geld verdienen können. Trotzdem wollte er gerne Fliesenleger und Schriftsteller zugleich sein. Also habe er tagsüber mit seinem Vater und den Brüdern gearbeitet, nachts zu Hause geschrieben. So entstanden Geschichten und zwei Romane. Auf eigene Kosten konnte er eine seiner Erzählungen veröffentlichen.

 

Nach Kriegsbeginn 2011 war an weitere Veröffentlichungen nicht mehr zu denken. Der Krieg machte ihn arbeitslos, während die Lebensmittelpreise in unglaubliche Höhen stiegen. Am meisten aber machte Hosam der drohende Militärdienst Sorgen. „Ich wollte kein Soldat sein.“ Auf einen Menschen schießen, ihn töten – für ihn war das ein unerträglicher Gedanke. Den Militärdienst wollte er auch seinem damals 15-jährigen Sohn ersparen. „Du musst jetzt fahren“, sagten Freunde im Sommer 2015 zu Hosam, der sich kaum noch in sein eigenes Haus traute. Er packte seine Sachen und setzte sich in einen Kleinbus, der in Richtung Libanon abfuhr. Da hatte er sich bereits im Internet über Länder informiert, in die er fliehen konnte. „Ich dachte, ich muss in ein Land gehen, wo ich in Frieden mit meiner Familie leben kann.“ Er wählte den Weg nach Deutschland.

 

Vom Libanon aus konnte man in die Türkei fliegen. Das Abenteuer begann da erst. In der Türkei nämlich musste sich Hosam einem Schleuser anvertrauen, der ein Motorboot für die Überfahrt nach Griechenland bereithielt. Hosam schaut in seinem Handy nach dem passenden deutschen Wort für diesen Mann. „Lügner!“ Es sei ein großes Boot, habe der Menschenschmuggler zu ihm gesagt, und nur zwanzig Flüchtlinge würden mitfahren. Tatsächlich waren es doppelt so viele, die sich mitten in der Nacht in ein viel zu kleines Boot drängen mussten. Eng wurde es auch in dem Lastwagen, der Hosam heimlich zusammen mit einer Gruppe Landsleute weiter bis über die deutsche Grenze fuhr. Das war im September 2015. Hosams erste Station war eine Flüchtlingsunterkunft in Schwerin. Ein syrischer Freund schlug vor, zu ihm nach Wuppertal zu kommen. „Das Leben ist gut hier, die Leute sind nett.“

 

Eine Wuppertalerin war sogar mehr als nett. Hosam lernte sie bei einer kirchlichen Anlaufstelle für Flüchtlinge kennen. Zu der Zeit zerbrach er sich den Kopf, wie er seine Familie aus Syrien nachholen könnte. Seine neue Bekannte bot an, ein Flugticket für die vier zu bezahlen. „Wenn du einen Beruf hast, zahlst du mir das zurück.“ Also verkaufte Hosams Ehefrau das Haus in Salamiyya und machte sich mit den Kindern auf in Richtung Libanon.

 

Nachdem so viel von Syrien die Rede war, kommt Hosam noch einmal auf die erste Familienwohnung in Oberbarmen zurück. Am Ende erfuhr er, dass ein Nachbar für die nächtlichen Geräusche verantwortlich war. Hosam macht vor, wie dieser sich beim Gehen auf einen Stock stützen muss. Das „Tok-tok-tok“ des Stocks auf dem Fußboden ließ die Studentin nicht schlafen – und nicht etwa Hosams Kinder.

 

Text von Daniel Diekhans

Fotograf: Evangelos Rodoulis
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